Magie und Osterwasser

„Wieder schlug Tonda den Pfad durch die Felder ein, außen am Dorf entlang, auf den von Morgennebeln verschleierten Wald zu – da tauchten vor ihnen die Umrisse schattenhafter Gestalten im Frühlicht auf. Lautlos, in langer Reihe kamen die Mädchen des Dorfes ihnen entgegen: Dunkle Tücher um Kopf und Schultern, jede mit einem irdenen Wasserkrug.
»Komm«, sagte Tonda leise zu Krabat, »sie haben das Osterwasser geholt, wir wollen sie nicht erschrecken…« Sie duckten sich in den Schatten der nächsten Hecke und ließen die Mädchen vorüberziehen.
Das Osterwasser, der Junge wusste es, musste man schweigend am Ostermorgen vor Sonnenaufgang aus einer Quelle schöpfen und schweigend nach Hause tragen. Wenn man sich darin wusch, erwarb man sich Schönheit und Glück für ein ganzes Jahr – so wenigstens sagten die Mädchen.
Und außerdem konnte man, wenn man das Osterwasser ins Dorf trug ohne sich dabei umzuschauen, dem künftigen Liebsten begegnen: Das sagten die Mädchen auch – und wer weiß, was davon zu halten war.“
Auch diesen Frühling besuche ich die Quelle, die der heiligen Idda von Toggenburg geweiht ist. Eine Kapelle wurde direkt über die Quelle gebaut, aber der Ort an einem unscheinbaren Abhang hat nichts an Magie verloren.
Mit dem Wasser aus dem halbrunden, moosigen Becken erneuere ich meine Verbundenheit mit den Kräften des Universums, der Landschaft und der unsichtbaren Welt und danke meiner spirituellen Begleiterin, die sich mit Licht und Dunkel, Wäldern und Tieren, Ende und Anfang auskennt.
Auf dem Weg zurück wird mir klar, dass ich gerade das Osterwasser geholt habe.
Wasserkulte und heilige Quellen – so alt wie das Menschsein. Im Christentum unter anderem überliefert durch die Taufe und das Weihwasser. Im Brauchtum sind es Besuche bei Heilquellen, Feste mit Brunnen-Umschreitungen und Opfergaben wie «werfe eine Münze hinein», bei denen Wasser geehrt oder um Heilung oder Glück gebeten wird. Wesen, die das Wasser bewohnen oder personifizieren wie Nymphen, Sirenen und Wasserdrachen leben in Volkserzählungen weiter…
Nicht umsonst sind es die jungen Mädchen, die in der Geschichte von Krabat in der Osternacht mit Kerzen singend durchs Dorf ziehen, um vor Sonnenaufgang an einer Quelle das Osterwasser zu schöpfen und heimzutragen. Es bringt ihnen Gesundheit, Schönheit und Glück – und vielleicht auch eine Begegnung mit dem Vater ihres zukünftigen Kindes. Hinter all dem steht, dass Wasser das Element der Fruchtbarkeit ist.
„Krabat wird eins mit dem Kerzenlicht, das die Kantorka vor sich herträgt. Nun ist er ihr nahe – so nah, wie er nie zuvor einem Mädchen gewesen ist. Er blickt in ein junges Gesicht, das sehr schön ist im strengen Rahmen von Stirnband und Häubchen. Die Augen sind groß und sanft, sie blicken auf ihn hernieder und sehen ihn nicht – oder doch?
Er weiß, dass es höchste Zeit ist ans Feuer zurückzukehren. Aber die Augen des Mädchens, die hellen Augen im Kranz der Wimpern, halten ihn fest, er kommt nicht mehr los davon. Die Stimme der Kantorka hört er nur noch von fern, sie ist ihm jetzt nicht mehr wichtig, seit er ihr in die Augen sieht.
Krabat weiß, dass es auf den Morgen zugeht: Er kann sich nicht trennen. Er weiß, dass sein Leben verspielt ist, wenn er sich nicht zur rechten Zeit losmacht und heimkehrt: Er weiß es – und schafft es nicht. Bis ein plötzlicher, greller Schmerz ihn durchzuckt, der wie Feuer brennt und ihn jäh hinwegreißt.
Krabat fand sich am Waldrand wieder, bei Juro. Auf seinem Handrücken lag ein glühendes Stückchen Holz, rasch schüttelte er es ab.“
In der magischen Geschichte „Krabat“ des deutschen Jugendbuchautors Otfried Preussler rettet ein Mädchen aus dem Dorf durch ihre Liebe den jungen Krabat schlussendlich vor dem Tod. Und so tut es die jugendliche, weisse Göttin, wenn sie im Frühling mit Sonne und Wasser das Leben des Landes, der Tiere und der Menschen erneuert.
Zitate aus: Otfried Preussler, Krabat, 1971