Matriarchy for Future

Einen Tag lang Reisen. Irgendwann, nach zwölf Stunden unterwegs und irgendwo im Nirgendwo aufs Weiterfahren wartend, zweifle ich am Sinn meiner Entscheidung, alleine nach Holland an ein Matriarchats-Festival zu fahren. Was tue ich hier?
Freitag, der erste Kurstag. Das Festival wird mit einem gemeinsamen Kreis eröffnet. 400 Frauen und einige Männer halten sich bei den Händen. Ich wusste, es wird was Grösseres. War gut, herzukommen.
Dr. Heide Göttner-Abendrot eröffnet danach die beiden Workshoptage mit einem prägnant-progressiven Vortrag über die Möglichkeiten, matriarchale Werte in unseren Alltag, in unsere Gesellschaft zu bringen. Ihre Hauptpunkte: Gemeinschaften bilden, Zerstückelung beenden. Konsensentscheidungen. Nationalstaaten sind obsolet, es geht um gewachsene Strukturen, Kulturen und Regionen. Subsistenzwirtschaft. Beenden von Monopolen und monotheistischen Religionen. Was sie sich ausdenkt, ist eine Revolution.
Positiv überrascht vom Klartext der Vierundachzigjährigen, begebe ich mich an den Vortrag von Phd. Annine van der Meer, Religionshistorikerin aus Holland. Ihr umfangreiches Buch «MA – Die Sprache der Göttin» ist eine Enzyklopädie der Frauen- und Göttinnendarstellungen in Europa von der Altsteinzeit bis in die römische Epoche. In ihrer Forschung liest sie die visuelle Sprache, welche diese Funde sprechen, sehr genau und detailliert vergleichend. Die Funde sprechen unmissverständlich von der Verehrung des Weiblichen und des Göttlich-Weiblichen in diesem langen Zeitraum unserer Geschichte.
Nachmittags bei Renate Fuchs-Haberl, der Wildmohnfrau und Sagenforscherin aus Salzburg, geht es kraftvoll und kirchenkritisch weiter. Sie untersucht das katholische Brauchtum des Salzburger Lands auf darin enthaltene vorchristliche Symbolik und legt damit den Ursprung vieler Bräuche in matriarchaleren Zeiten frei. Zerstückeltes fügt sich zusammen, Befremdendes klärt sich, Verlorenes findet sich.
Zum Ende des Tages sitze ich mit anderen Festivalbesucherinnen aus meiner Heimat zusammen: Vernetzung stärkt.
Samstag, Tag zwei. Heute spricht Phd. Joan Marler, die Gründerin des «Instituts of Archaeomythology» in Kalifornien. Der Vortrag handelt vom Leben und Wirken von Marija Gimbutas. Der verstorbenen, wichtigen Archäologin aus Litauen verdanken wir ein grundlegendes Verständnis für die Zivilisationen von Alt-Europa, die Umwälzungen durch den Einfall der Indo-EuropäerInnen in Europa und den Wandel vom Matriarchat ins Patriarchat vor fünftausend Jahren.
Der Vortrag auf englisch lässt mich von Details, die sich meinen Englischkenntnissen entziehen, absehen. Joan Marler, die Referentin, wird für mich plötzlich zur Hauptakteurin. Die Art und Weise, wie sie die Schönheit der von Gimbutas ausgegrabenen und besprochenen Funde – in erster Linie Frauenfiguren und Keramik – sieht und interpretiert, lässt mich die nüchterne, wisssenschaftliche Ebene verlassen. Ich bin tief berührt.
Jetzt bin ich auch auf der gefühlsmässigen Ebene im Thema angekommen. Ich lasse die nachfolgende Podiumsdiskussion weg und durchstreife den Park. Was geschieht hier gerade? Ich werde aufgeweicht…
Aber es beginnt erst. Yael Deckelbaum, die fantastische kanadisch-israelische Sängerin und Friedenaktivistin, tritt abends zusammen mit der Palästinenserin Meera Eilabouni im grossen Konzertraum auf. Nun reisst es auch die zurückhaltensten Teilnehmerinnen des Festivals von den Stühlen. Endlich singen, tanzen, fühlen!
Am Sonntagmorgen die Voice Ceremony mit Yael. Tönen, Singen, Atmen. Refrain, Chorus, Chant… Ein Saal mit mehreren hundert Frauen und auch einigen Männern tönt. Ich habe ein geschütztes Plätzchen hinter den Stuhlreihen gefunden. Sehen muss ich nichts. «It’s all about the wind moving the leaves». Du brauchst nichts zu tun. Ich weine, wärend ich singe, und lache, wärend ich weine. Komplett aufgeweicht.
Kurz darauf starte ich in die Tagesreise quer durch Deutschland. Es ist kalt geworden und regnet. Ich treffe auf heruntergekommene, verdreckte Bahnhöfe und Bahndämme überzogen mit Müll; auf müde, abgearbeitete Menschen, aus Verspätungen und Zugsausfälle.
Die junge Frau, die mich mitnimmt, weil es keinen Bus gibt, fährt extra einen grossen Umweg und möchte keine Gegenleistung. Sie war nicht am Festival. Aber sie redet vom Universum, und dass es ihr Aufgaben gibt inklusive der Möglichkeiten, diese zu lösen.
Auch ich habe eine Aufgabe gefasst. Die Aufgabe zu nehmen. Anzunehmen, aufzuweichen.
Das «Matriarchy for Future»-Festival, organisiert von Schülerinnen von Heide Göttner-Abendroth, fand im Juli 2025 im Kasteel de Berckt in Holland statt.



