Schossweisheit und Lebensblut

Im Onsernonetal entdecke ich die Madonna de Re: In dem gleichnamigen italienischen Dorf im Grenzgebiet zum Tessin blutete der Erzählung nach ein Madonnenbild, nachdem es im Jahr 1494 mit einem Stein beworfen worden war, 14 Tage lang am Kopf. Das Bild dieser Madonna verbreitete sich mit den italienischen Kaminfegern bis nach Deutschland und Osteuropa. Maria stillt sichtbar den Jesusknaben, der in ihrem Schoss steht, und hält drei Rosen in der Hand, an der Stirn eine Wunde. Unter ihr befindet sich stehts ein Spruchband mit lateinischer Inschrift: «In gremio matris sedet sapientia patris» – «Im Schoss der Mutter sitzt die Weisheit des Vaters».
Sie blutet, sie gebiert und sie stillt. Wir finden hier alle weiblichen Mysterien!
Christliche Ikonografie bestand aus Bildergeschichten für das leseunkundige Volk. Ich nehme mir unbeschwert persönliche Interpretationen heraus. Wenn die «Magd Gottes» abgebildet ist wie eine strahlende Göttin, dann sehe ich das auch so! Wenn sie , wie unten, «Tierohren» hat und von allen Würdenträgern angebetet wird, umso besser!
Die umfangreiche Verehrung dieser Gottesmutter im Onsernonetal erzählt mir auch von dem harten Leben der Menschen in den steilen Tälern der vergangenen Jahrhunderte. Leben und Tod waren sich sicherlich sehr nahe, auf Schritt und Tritt Gefahren, Härte und Armut. Und ebenso dicht ist die Landschaft mit den Gnadenbildern der Mutter Gottes, oder eben ihrer Vorgängerin, der Muttergöttin, durchwirkt. Ein Waldteppich mit Marienstickerei, eine spirituell durchdrungene, kraftvolle Landschaft.
